Die Cherubim

von Georg Klein

Sie waren ein gutes Team; es gab keine Mauern zwischen ihnen. Transparent waren sogar die Raumteiler rund um ihre Arbeitsstationen: Bambusrahmen, bespannt mit Japanpapier. Lautlos verschoben sich die Paravents, sobald nur eine Schulter an sie rührte. Das Team mochte diese gleitenden Wände. Sie passten zu seinem Tun, und sie sahen so schön aus: nahezu natürlich. Die einzelnen Körper schimmerten durch das Papier, farbarm und weichgezeichnet. Ein unbeteiligtes Auge hätte das Team für ein bloßes Nebeneinander selbstverliebter Gespenster halten können. Aber sie waren in einem Zweck vereint und konkret; in neun Monaten sollte das Projekt beendet sein.
Die gemeinsame Arbeit begann an einem Abend. Im Laufe des Tages waren sie eingetroffen. Aus aller Herren Länder hatte sie die Konzernmutter für die Abschlussphase zusammengeholt. Kurz standen sie in der Mitte des Raums, den sie sogleich "Die Halle" nannten und in dessen Rechner ihnen das bereits Erreichte vorausgeeilt war. Die meisten hatten sich nie zuvor gesehen, doch man kannte den Erkenntnisauswurf des anderen. Jetzt durfte jeder staunen, wie jung sie ausnahmslos waren. So viel Wissen im Schädel, so wenig Falten im Gesicht!
Es gab keine Fenster, ihre Halle war das Kerngehäuse des großen Bauwerks. Das Team brauchte keine Fenster. Die ganze Decke war ein Beleuchtungshimmel. Er mischte das Spektrum eines bewölkten Sommertages in gemäßigten Breiten und war so programmiert, dass er die Spanne zwischen Morgenhelle und frühem Nachmittag durchlief. Dann, nach einem zarten Flackern, begann er von neuem; diese acht Stunden, vor und nach dem Zenit der sommerlichen Sonne, liefern bekanntlich das Licht, das den meisten Pflanzen und allen höheren Tieren, auch dem Menschen, am besten bekommt.
Später, sie waren schon weit im Projekt fortgeschritten, träumten sie manchmal von sich als nackten Gärtnern: Nur mit schweren ledernen Schürzen bekleidet, schleppten sie verzinkte Gießkannen durch die Halle. Kaum hatten sie eine Stelle des Bodens gewässert, schoben sich ruckend, in deutlichen Wachstumssprüngen, Triebe hinauf zu den Lampen. Jeder war seltsam beschämt, wenn er erwachte. Immer waren die Gewächse, die sie hegten, in all ihrer Prallheit ungut fahl, auf eine geile Art gelb gewesen.
Aber das Team schlief zuwenig, um seine Träume zu achten. Die Arbeit vollzog sich gleitend, in freien Schichten: Wer eine Auszeit benötigte, huschte davon, ohne den Bildschirm zu löschen. Wer zurückkam ins Licht, ging einmal rundum und klatschte in die Hände der anderen. Und alle fanden es sinnig eingerichtet, daß die Appartements direkt über der Halle lagen. so nahe, daß von einem Weg hinauf, von einem Weg hinunter kaum die Rede sein konnte. Es war, als saugte sie ein elektrischer Pol nach oben in die Kojen. Noch schneller ging es zurück: An messingfarbenen Stangen, wie Feuerwehrleute zu den Löschfahrzeugen, rutschten sie wieder an ihre Plätze.
Herrlich war die Stille, die sie sich teilten. Ihr Stolz schien jeden Störlaut zu schlucken. Ein jeder wußte sich als der Beste auf seinem Gebiet und konnte das gleiche von den anderen sagen. Sie fühlten sich als die Könige von begrenzten, aber nicht zu umgehenden Reichen, als Beherrscher der Territorien, durch die die neue Seidenstraße führte. Und zugleich waren sie die Karawane, die auf diesem Weg die Kostbarkeiten eines neuen Indien barg. Ein großer, dummer Fehler an einem ihrer Rechner hätte alle für Tage in die Irre laufen lassen. Aber sie hatten in den letzten Jahren gelernt, kleine, kluge Fehler zu begehen. Und nur ein Verrückter wäre auf die Idee gekommen, dem Fortschritt ein Bein zu stellen.
Ein Klo jedoch, das Damen-WC, war vom ersten Tag an defekt. Die Arbeitsetage, die sie in ihren süßesten Gedanken schon "Die Ruhmeshalle" nannten, hatte merkwürdigerweise nur zwei winzige Toiletten. Mehrmals erschienen Handwerker, um ein paar Stunden lang Lärm und Schmutz im Frauenklo zu machen. Wenn sie schließlich abgezogen waren, hing wie zuvor ein Pappkarton, darauf eine Hand, die einen klobigen Schraubenschlüssel führte, als Zeichen ihres Scheiterns über der Klinke. Das Mechanische hat große Auftritte gehabt. Aber heutzutage ist es nur mehr der Clown im Zirkus der Technik. Das Team war diesen armen, tragikomischen Bastlern gegenüber zu Großmut verpflichtet.
Diskret teilten sie sich die Herrentoilette, und ähnlich diskret vermied man, gemeinsam zu essen. Schon die Vorstellung, alle säßen um einen Tisch und alle Hände wären damit beschäftigt, Münder vollzustopfen, hätte einen Mißklang mit dem Grundton ihres Tuns ergeben. So aß jeder für sich, ohne die Arbeit zu unterbrechen: Nüsse, Rohkost, Käse, verschiedene Früchte, vor allem Bananen und Mangos. Ja, das Mango- und Bananenessen nahm in einer Weise zu, die ihnen, die sie doch ein scharfes Gespür für Progression besaßen, längst hätte auffallen müssen.
Aber sie dachten sich nichts dabei, und es wunderte auch keinen, als sie alle, fast gleichzeitig, Probleme mit dem Rücken bekamen. Kleinere Beschwerden, einen steifen Nacken, Schmerzen in der Steißbein- und Lendenwirbelgegend, hatte jeder aus der Vorphase des Projekts mitgebracht. Sie waren sitzende Götter, und jetzt, wo sie darangingen, das große Puzzle zusammenzufügen, nahm auch der Druck auf ihre Wirbelsäulen zu. Man hatte Tricks, um sich über die Runden zu retten. Manche begnügten sich mit Dehnen und Recken. Andere vertrauten der alteuropäischen Isometrik und drückten in ausgeklügelten Übungen gegen alle Widerstände, die ihnen Stuhl und Tisch boten. Wieder andere suchten im Zeitlupenkampf mit einem unsichtbaren asiatischen Gegner den wahren Weg zur Entkrampfung.

Ausgerechten am Großen Tisch kam es zum ersten Zusammenbruch. Der Große Tisch war ein Leuchttisch. Wenn wir uns an ihm trafen, las seine Platte, zunächst noch dunkel bleibend, die Linien unserer Handteller, Sobald sich alle Hände korrekt, mit gespreizten Fingern, auf das Glas preßten, flammte das Licht auf. Es war ein grandioses, ein historisches Gelb, das Gelb gewaltiger Kohlefaser-Glühbirnen. Mit diesem Gelb hatte einst, hier in dieser Stadt, der Fortschritt seinen Anfang genommen. Mit diesem Glühen hatte hier angehoben, was wir kalt zu Ende bringen wollten. Ja hier, am Großen Tisch, wo wir, die Spezialisten uns zum Geist des Projekts vereinten und das Modell sichtbar wurde, nur hier kam unser Team ganz, in seiner ganzen kühlen Wirklichkeit, zu sich.
Ich war es nicht, der über die Tischkante kippte. Ich vermag nicht einmal zu sagen, ob die Person, deren Oberkörper ohne einen warnenden Laut auf das leuchtende Glas stürzte, weiblichen oder männlichen Geschlechts war. Wir dachten an einen Hexenschuß, aber der Schmerzpol des ins Licht gekrümmten Körpers saß näher am Kopf, irgendwo zwischen den Schultern, in jenem Bereich des Rückens, der auch in entspanntem Zustand nur mit den Fingerspitzen zu erreichen ist. Heute wissen wir, warum es uns so schwerfiel, dem auf den Tisch Gefallenen zu helfen, warum erst verspätet zwei von uns, eine Frau und ein Mann, den versteinerten Rücken des Zusammengebrochenen zu betasten begannen.
Oben in unseren Appartements waren die Naßzellen mit Spiegelfließen beklebt. Auch der Fußboden und die Decke waren davon nicht ausgenommen. Ich hockte mich gerne zwischen Toilette und Waschbecken und rauchte, an die Wand gelehnt, die zwei, drei Zigaretten, die ich brauche, um einschlafen zu können. Andere zogen sich den Fernseher vor die Tür ihres Feuchtraums und setzten sich trinkend unter den Strahl der Dusche. Wer verstünde das nicht. Es kann herzzerreißend schön sein, es rührt an wie ein altes Lied, ein kleines Fernsehbild und das eigene nasse Gesicht in den Fliesen vervielfältigt zu sehen.
Wann die anderen von der Veränderung ihres Körpers eingeholt wurden, kann ich nicht wissen. Mich bekamen die Spiegel des Bades bis zuletzt nicht nackt zu fassen. Ich duschte stets im Pyjama. Schon während ich rauchte, wurde sein dünner Baumwollstoff wieder trocken. Die Fußbodenheizung wärmte mir Gesäß und Beine. Meistens fönte ich mir nur noch Kopf und Brust. Ich mag es, mit nassem Rücken ins Bett zu kriechen. Dort, im Liegen, müssen wir alle nach und nach etwas gemerkt haben. Es wuchs aus uns heraus. Mich pikste es, hart und doch elastisch wie mit einem Federkiel, zwischen die Schulterblätter, sobald ich mich auf die linke Seite, in meine Schlafposition, wälzte.
Wir taten nichts dagegen, außer Tee zu trinken. Dünner und dünner wurden die vielen Tees, die schwarzen, grünen und roten, die wir uns immer häufiger brühten. Und wie um diesen Verlust an Substanz auszugleichen, entstanden wundersame Zeremonien der Zubereitung. Zum Glück hat niemand gesehen, welches Brimborium wir um das heiße Wasser und um die winzigen Blattmengen veranstalteten, die wir damit aufgossen. Wenn unsere Tees zuletzt überhaupt noch eine Farbe hatten, dann muß es der Ton gewesen sein, den auch die Porzellanschüssel unserer einzigen Arbeitstoilette allmählich annahm. Seit ein paar Wochen blieb der Reinigungsdienst aus. Und auch die Monteure, die sich, ergebnislos, aber rührend regelmäßig, um die defekte Damentoilette bemüht hatten, ließen sich nicht mehr blicken.
Heute denke ich, für uns Krüppel ist es am einfachsten, unter Krüppeln zu leben. Vielleicht hätten wir in der Endphase des Projekts schon kleine Glocken um den Hals tragen sollen, ähnlich den Warnschellen, mit denen im Mittelalter die Aussätzigen auf sich aufmerksam machten. Einst erschreckten die Leprakranken mit ihrem Zuwenig an Fingern und Zehen, wir sind als erste auserkoren, mit einem Zuviel zu entsetzen. Irgendwann reichte unsere Kleidung nicht mehr aus, den Zuwachs zu kaschieren. Mehr schlecht als recht verbargen wir durch Haltung und Gang voreinander, was uns verband. Und irgendwann gründete unsere Scham auch in einem Zweck: Dem Team dämmerte, daß vielleicht nicht alle verwachsen waren.
Letztlich verrieten sich die beiden, die Frau und der Mann, selbst. Dennoch ist es mein Verdienst, daß es zu ihrer Entlarvung kam. Ich war es, der auf den Fruchtschalen ausglitt, die den Boden unserer Halle bedeckten. Ich stürzte so unglücklich auf den Rücken, daß meine neuen Glieder beweisen konnten, wie stark durchnervt sie waren. nur die zwei Verräter, die Frau und der Mann, eilten auf meinen Aufschrei herbei, um mir beizustehen. Sie drehten mich auf den Bauch. Und weil ich noch immer stöhnte, weil meine Hände vergeblich an den Ort der Schmerzen zu greifen versuchten, entblößten die beiden meinen Rücken.
Wenn das Neue in das alte Licht tritt, dauert es, bis die gewohnten Farben auf ihm haftenbleiben. Das Team starrte mein Fleisch an, als wäre das Sehen die mühsamste und langwierigste unserer Wahrnehmungsweisen. Alle die doch längst vergleichbare Auswüchse zwischen den Schultern trugen, traten zunächst, in manischer Verlegenheit, von einem Fuß auf den anderen, als zwänge sie ein Fließband, auf der Stelle zu tippeln. Dann begannen die ersten, ungeschickt wie Kinder, die das selbstständige Ausziehen noch nicht richtig beherrschen, sich zu entkleiden. Und während sich das Team nach und nach aus Ärmeln und Halsauschnitten kämpfte, begriffen, die Verräter, begriff das Paar, daß es auf sich allein gestellt war.
"Schnappt sie euch!" schrie ich, als ich sah, wie sich die beiden Ungeflügelten in Richtung Toiletten davonschlichen. Das Team verstand mich. Und wahrlich, wir waren entschlossen, die beiden Altartigen an Armen und Beinen zu fassen. Wir die noch Unvollkommenen, jedoch schon Sechsgliedrigen, wir, die Zukunft, hätten Mann wie Frau auf den Leuchttisch geworfen, um sie dort zumindest zu teeren und zu federn – wenn wir sie schon nicht gesund machen konnten.
Aber dem Paar gelang es, mit den Schultern die verriegelte Tür der Damentoilette zu sprengen. Ausgerechnet dorthin haben sie sich geflüchtet. Und jetzt, wo sich endlich auch das Team, von Hemden und Blusen befreit, zum Frauenklo aufmacht, quillt uns aus dessen Türrahmen ein schwefeliger Rauch entgegen. Wir zögern, nehmen uns schließlich an den Händen, und ein langes chorisches Husten schüttelt unsere Schwingen. Himmlisch leicht ist jedem der Leib, während wir Hand in Hand den stinkenden Qualm durchschreiten. Wir sind das gute Team! Summend drängen sich unsere Köpfe in die Tür, und jeder von uns schaut hinunter, sieht die Luke, die sich wie ein Fenster im Fußboden der Toilette aufgetan hat. In die Tiefe sinkt unser Blick, bis auf den Grund, bis in den Ursprung des großen Gebäudes.


Abdruck mit freundlicher Genehmigung des
Rowohlt Taschenbuch Verlags.